FN-Umfrage:Kritik an der Politik ist überdeutlich. Es muss dringend etwas beim Bürokratieabbau passieren, sagen Industrie, Handwerk, Landwirte und Sozialverbände.
Von Sascha Bickel
Wie wichtig ist der Bürokratieabbau in Deutschland? „Sehr dringlich!“ Das sagen übereinstimmend die IHK-Hauptgeschäftsführerin, der Präsident der Handwerkskammer und der Bauernverband. Auch der Sozialverband VdK äußert sich kritisch zum Thema.
„Ausufernde Bürokratie und Regulierungswahn – auf europäischer wie nationaler Ebene – nehmen vor allem kleinen und mittleren Betrieben die Luft zum Atmen. Die überbordenden Berichts-, Nachweis- und Dokumentationspflichten verzögern oder verhindern Innovationen und Investitionen. Sie binden zu viele Kapazitäten in den Betrieben, sind teuer und gefährden die Wettbewerbsfähigkeit“, erklärt IHK-Hauptgeschäftsführerin Elke Döring in ihrer Stellungnahme.
Die FN wollten wissen, was vor den Wahlen versprochen und danach nicht eingehalten wird beziehungsweise wo ganz konkret beim Bürokratieabbau zuerst angesetzt werden muss.
Belastungen von 65 Milliarden Euro jährlich
Die IHK Heilbronn-Franken teilt mit, dass bei Konjunkturumfragen „die Bürokratie regelmäßig als eines der Top-Geschäftsrisiken“ genannt werde. Bürokratische Auflagen seien aus Sicht der Unternehmen das größte Hindernis bei der Fachkräftesicherung. Die Bürokratie gelte es abzubauen, „damit Beschäftigte mehr Zeit für eigentliche Tätigkeiten haben“. Nach einer Erhebung der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK) liegen die jährlichen Bürokratiekosten in kleinen und mittleren Unternehmen bei bis zu 60.000 Euro. Insgesamt entstehen deutschen Unternehmen Bürokratiekosten von 65 Milliarden Euro jährlich.
Der Bund hat in den zurückliegenden Jahren insgesamt vier Bürokratieentlastungsgesetze auf den Weg gebracht. Dazu sagt die IHK-Hauptgeschäftsführerin: „Bei jedem neuen Bürokratieentlastungsgesetz haben die Unternehmen auf den großen Befreiungsschlag gehofft. Der ist aber bis heute ausgeblieben.“ Laut Döring leiden die Unternehmen unter den verschiedenen Bürokratie- und Regulierungsebenen – von der EU bis zu den Kommunen – „und unter der Neigung in Deutschland, Vorgaben überzuerfüllen. Andererseits hinken wir bei der Digitalisierung von Verwaltungsabläufen meilenweit hinterher.“
Die DIHK habe, so Döring, 50 Ideen zum Bürokratieabbau bereits vorgelegt. Sie selbst führt einiges an, was dringend umgesetzt werden müsste: „Die Digitalisierung von Verwaltungen zur Beschleunigung von Antrags- und Genehmigungsverfahren; einheitliche Standards schaffen innerhalb der EU und bei den Landesverordnungen in Deutschland, zum Beispiel bei der Verpackungsrichtlinie, Landesbauverordnungen, etc.; dann die Entwaldungsrichtlinie – sie ist ausgesetzt bis Dezember, aber noch nicht vom Tisch.“
Das Lieferkettengesetz sollte schon Ende 2024 aufgehoben werden. Das scheiterte aber im Bundestag. Der Abbau doppelter Berichtspflichten wäre laut Döring noch hilfreich und sie nennt noch ein Praxis-Beispiel: „Die Einnahme-Überschuss-Rechnung: Mit ihr errechnen Kleinstunternehmen ihre Gewinne. Das Formular umfasst 29 Seiten und 126 Angaben und ließe sich auf eine Doppelseite reduzieren.“
„Unverhältnismäßige Berichts- und Dokumentationspflichten“
Ralf Rothenburger, Präsident der Handwerkskammer Heilbronn-Franken, antwortet den FN auch klar und deutlich: „Der Abbau von Bürokratie ist aus Sicht des Handwerks längst überfällig. Denn bürokratische Anforderungen belasten kleine Handwerksbetriebe überdurchschnittlich stark. Handwerksbetriebe haben im Schnitt fünf Mitarbeiter und keine großen Verwaltungen, die stundenlang Berichte schreiben und Dokumentationen erfassen können. Unverhältnismäßige Berichts-, Dokumentations- und Sorgfaltspflichten müssen systematisch abgebaut werden“, damit wieder mit voller Kraft auf den Baustellen und in der Werkstatt die Dinge vorangebracht werden könnten.
Wurden die Unternehmen schon zu oft vertröstet und enttäuscht? „Im Prinzip nach jeder Wahl“, sagt Rothenburger: „Der Bürokratieabbau wird stets versprochen und dann passiert doch nichts.“ Die Politiker zeigten oft Verständnis, es brauche aber Taten. „Ich habe jedoch das Gefühl, dass mit jedem Gesetz, das eine Entlastung bringt, mehr neue Belastungen dazu kommen. – Man muss uns aber nicht alles haarklein vorschreiben. Man muss den Leuten mehr zutrauen.“
Welche Gesetze oder Vorschriften müssten aus Sicht der Handwerkskammer sofort weg? Dazu erklärt Rothenburger: „Nehmen wir die geplante EU-Entwaldungsverordnung. Mit dieser würden Handwerksbetriebe unverhältnismäßig stark belastet, da das Gesetz eine lückenlose Berichterstattung entlang der Wertschöpfungskette vorsieht. Wie sollen kleine Handwerksbetriebe das leisten? Ähnlich ist es beim EU-Lieferkettengesetz – das Prinzip der Verhältnismäßigkeit wird bei diesen Gesetzen völlig außer Acht gelassen. In Deutschland haben wir ein zusätzliches Problem – nämlich das sogenannte ‚Gold-Plating‘. Deutschland ist seit langem dafür bekannt, bei der Umsetzung von EU-Recht noch eins draufzusetzen. Das führt oft zu einer enormen bürokratischen Belastung für Unternehmen und muss aufhören.“
Auch das geplante Gleichbehandlungsgesetz des Landes Baden-Württemberg brauche es nicht, „da sich der Gleichbehandlungsgrundsatz bereits aus Artikel 3 des Grundgesetzes ergibt“.
„Enormer zeitlicher Aufwand für die Betriebe“
Stefan Fröber, der Kreisgeschäftsführer des Bauernverbands Main-Tauber-Kreis, teilt den FN mit: „Aus unserer Sicht ist ein Bürokratieabbau mehr als überfällig. Seit mindestens drei Wahlperioden wird über den Bürokratieabbau gesprochen, passiert ist allerdings genau das Gegenteil. Immer mehr Vorgaben, immer mehr Fristen, immer mehr Formulare. Dabei ist der zusätzliche Zeitaufwand für die Betriebe nur die eine Seite. Am Beispiel Tierhaltung ist deutlich zu erkennen, dass durch die strikten Vorgaben, Tierwohl und Umweltschutz nicht mehr vereinbar sind. Ein Tierwohlstall kann in vielen Fällen nicht genehmigt werden, weil die errechneten Emissionen zu hoch sind und Grenzwerte reißen. Also kann hier keine Entwicklung stattfinden. Hier muss ein Vorrang für Tierwohlställe, sowohl bei einem Umbau als auch bei Neubauten, eingerichtet werden.“
Vor allem mit der letzten Neuerung der Agrarpolitik wurden die Landwirte laut Fröber „getäuscht“. Er sagt: „So war eine klare Vorgabe, dass Bürokratie abgebaut werden sollte, heraus kam ein Konstrukt, das unübersichtlicher nicht sein kann. Beispielsweise ist hier der Erosionsschutz zu nennen. Nicht selten können nicht einmal die Ämter überblicken, auf welcher Fläche was durchgeführt werden darf.“
Als weiteres Beispiel nennt er die Stoffstrombilanz: „Diese soll über den Stickstoff- und Phosphorverkehr auf den einzelnen Betrieben Auskunft geben und Überdüngung vermeiden.“ Sie bringe „keine zusätzlichen Informationen“, weil vieles anderweitig schon dokumentiert sei.
Dringend angegangen werden müsste laut Fröber auch die Vereinfachung der Datenbankstruktur bei Tierhaltern. Hier müssten Daten in mehr als fünf (!) unterschiedlichen Formaten geführt werden.
„Viele Menschen verstehen Anträge nicht und brauchen Hilfe“
Werner Seeger, der Vorsitzende des VdK-Kreisbands Bad Mergentheim, äußert sich ebenfalls zur FN-Anfrage. Der VdK ist mit über 2,3 Millionen Mitgliedern der größte Sozialverband Deutschlands und hat auch tausende Mitglieder in der Region. In der Pflege und im Gesundheitsbereich kennt man sich bestens aus.
Seeger sagt: „Die Frage des Bürokratieabbaus muss differenziert betrachtet werden. Wir begrüßen beispielsweise den Bürokratieabbau beim Entlastungsbetrag in der Pflege. Das Land hat die Unterstützungsangebote-Verordnung überarbeitet und damit die ehrenamtliche Nachbarschaftshilfe in der häuslichen Pflege gestärkt. Seit dem 1. Januar ist der Entlastungsbetrag von aktuell 131 Euro monatlich leichter zugänglich. Das ist ein Gewinn für die Nächstenpflege hier im Land, dafür hat der VdK jahrelang gekämpft. Nach einer VdK-Studie hatten 2019 nämlich nur rund 23 Prozent aller Anspruchsberechtigten den Entlastungsbetrag abgerufen, auch weil hohe bürokratische Hürden im Weg standen.“
Und auch andere Leistungen des Sozialstaats müssten laut Seeger „einfacher zugänglich gemacht werden“. Häufig sei schon der Antrag, beispielsweise auf Grundsicherung im Alter, so kompliziert, dass viele Menschen ihn nicht ohne Beistand verstehen und ausfüllen könnten.